Residuum

You are a Pope!

Das Ende der künstlerischen Avantgarde

In der Schrottland #3 schrieb ich, dass die Popmusik am Ende ist, weil die technische Entwicklung ausgeschöpft ist. Bereits 2011 veröffentlichte Simon Reynolds sein Buch "Retromania. Pop Culture's Addiction to Its Own Past", in dem er schrieb, dass Popkultur sich nur noch um seine eigene Geschichte dreht.

Diese Historisierung der eigenen Geschichte betrifft allerdings nicht nur die Popmusik, sondern zieht sich durch alle Kunstformen: die erfolgreichsten Filme der vergangenen Jahre waren Fortsetzungen oder Remakes, sei es Star Wars, Superhelden aus dem Marvel- oder DC-Universum oder auch James Bond. Die Ausstellung "Painting 2.0" in der Sammlung Brandhorst wurde mit einem Bild auf Plakaten beworben, das mit Ausnahme des Smartphones auch aus den 1910er Jahren hätte stammen können.

Besonders schockiert hat mich der Eklat bei der Aufführung von Steve Reichs "Piano Phase" im März in Köln: Das Publikum störte die Einführung des Cembalisten Mahan Esfahani durch Zwischenrufe, weil er sie auf Englisch hielt. Auch beim Spiel wurde er unterbrochen, so dass er das Konzert abbrach. Dabei ist Piano Phase ein fast 50 Jahre alter Klassiker der Minimal Music, der in seiner Struktur wesentliche Elemente des Techno später vorwegnimmt und insgesamt als eines der eingängigsten Stücke der E-Musik des 20. Jahrhunderts gilt.

Dabei möchte ich nicht den Fehler machen, die Existenz einer künstlerischen Avantgarde zu leugnen. Sie hat nur noch kaum Bedeutung und findet im Verborgenen statt, wo sie von Avantgardisten rezipiert wird und im eigenen Saft schmort.

Das war nicht immer so: In der Nachkriegszeit bis Mitte der 1970er Jahre gehörte es zum Bildungskanon, sich auch als gut situiertes Kulturpublikum mit Avantgarde auseinanderzusetzen. Zum Beispiel war von Peter Handkes Gedichtband "Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt" die Startauflage von 12.000 Stück im Jahr 1969 innerhalb eines Monats ausverkauft.

Ebenso machte Yves Klein mit seiner Aktion "Anthropometrie" 1960 auf sich aufmerksam, in der er bemalte Frauen auf Leinwänden räkeln und dazu ein Streichquartett aufführen lies. In der o.a. Ausstellung "Painting 2.0" war auch eine Fotografie dieser Aktion zu sehen: Man sieht großbürgerliches Publikum, das interessiert um die Aufführung herumsteht, dabei aber nicht voyeuristisch starrt. Welch ein Kontrast zum Kölner Musikpublikum 2016!

Dieser unterschiedliche Umgang mit künstlerischer Avantgarde hat gesellschaftliche Ursachen. Die unmittelbare Nachkriegszeit war eine Zeit des Aufbruchs, die Auseinandersetzungen in der Gesellschaft waren Auseinandersetzungen über Zukunftsvisionen. Die Rechte wollte nicht nur technischen Fortschritt, sondern hat auch die Vision einer europäischen Einheit vorangetrieben; der Linken ging diese Veränderung der Gesellschaft nicht weit genug. Die Avantgarde war ein Spiegelbild dieser Auseinandersetzung.

Das ging dabei soweit, dass Firmen die Avantgarde unterstützt hat. Siemens betrieb das Studio für elektronische Musik von 1956 bis 1968, das wesentlichen Anteil an der Entwicklung der elektronischen Musik hatte. Dass es für Siemens keinen Gewinn abwarf und nie erwartet wurde, damit Geld zu verdienen, wurde von der Firma in Kauf genommen. Kunstförderung wurde als Anregung des kreativen Denkens gesehen, ohne die kreative Lösungen in der Industrieforschung nicht möglich ist. Auch deshalb galt Siemens damals als fortschrittliches Unternehmen, heute fragt man sich eher, was denn die Firma noch wirklich macht, herstellt und wie lange sie noch existieren wird.

Heute ist das gesellschaftliche Klima ein anderes: Die Rechte möchte zurück zum Nationalstaat des 19. Jahrhunderts, die Linke möchte zurück zum Sozialstaat der 1970er Jahre. Zukunftsgerichtete Visionen bietet keines der Lager an, eine Diskussion darüber, wie man die Gesellschaft entwickeln möchte, findet nicht mehr statt.

Das Ende der künstlerischen Avantgarde ist ein Spiegelbild dieser Rückwärtsgewandheit der Gesellschaft.

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